Die Sehnsucht von Stadtmenschen nach einem Stückchen Grün in näherer Umgebung oder einer kleinen Parzelle zum Beackern ist nicht so neu, wie uns die Presse mit ihren zahlreichen Berichten zum Thema derzeit glauben machen will. Neu sind lediglich die Gartenmodelle, die neben den traditionellen und immer noch heiß begehrten Schrebergärten in den letzten Jahren dazugekommen sind und neu ist auch, dass in den Städten das Gärtnern nicht mehr nur als privates Hobby betrieben wird sondern immer mehr in Gemeinschaft und im Austausch mit Gleichgesinnten. Urban Gardening ist dabei ein Oberbegriff für die Vielzahl moderner Gartenentwürfe. Da gibt es Interkulturelle Gärten, die vorrangig als Integrationsprojekte fungieren oder mobile Nomadengärten, die notfalls schnell umgesiedelt werden können, weil für die Anbauflächen in der Stadt oft nur kurzzeitige Pachtverträge erhältlich sind. In Gemeinschaftsgärten sollen die nachbarschaftliche Beziehungen von Stadtteilbewohnern gefördert werden und Krankenhäuser oder Seniorenheime richten derzeit verstärkt Therapiegärten ein, weil sich die heilsame Wirkung von Gartenarbeit mittlerweile herumgesprochen hat. Dazu kommen Netzwerke wie Mundraub, die Fundstellen für herrenloses Obst veröffentlichen oder ausgefallene Spielarten wie Guerilla Gardening, bei dem öffentliche Grünflächen, zum Teil unerlaubterweise aber meist durch die Kommunen wohlwollend geduldet, bepflanzt werden.
Einen informativen Überblick über die neuen Varianten des Gärtnerns in der Stadt erhält man in diesem Buch. Dabei wird das Thema in 22 Aufsätzen von verschiedenen Autoren überwiegend von der wissenschaftlichen Seite beleuchtet und vor allem werden darin die gesellschaftlichen Auswirkungen dieser neuen Gartenlust beschrieben. Zu Wort kommen hier beispielsweise Soziologen, Stadt- und Landschaftsplaner, Gartenbau- und Agrarexperten. Trotz des akademischen Ansatzes ist das Buch auch für interessierte Laien spannend zu lesen.
Urbane Gärten erfüllen zahlreiche Aufgaben und haben teils sehr unterschiedliche Schwerpunkte. Die Aktivisten betreiben das Gärtnern als Naturerfahrung oder kreatives Hobby, oft geht es um Selbstversorgung, produktive Stadtlandschaften und die Wiederentdeckung alter Kulturtechniken, aber auch um Sinnlichkeit und Vielfalt an sich. Die Aktionen, die an solchen Orten stattfinden, gehen oft weit über die Gartenarbeit hinaus. Vorträge und Workshops zu gesunder Ernährung, bewusstem Konsum oder Umweltbildung werden angeboten und nicht selten engagieren sich die Gartengemeinschaften auch politisch. Etwa wenn ihre grünen Paradiese von Immobilienspekulanten bedroht sind oder wenn andere Initiativen, die sich im Aufbau befinden, um Unterstützung bitten.
Die wenigen, aber sehr inspirierenden Bilder sind (vermutlich aus Kostengründen) auf 16 Seiten gesammelt eingefügt worden. Schade, denn wären die Fotos im Buch verteilt und den jeweiligen Initiativen zugeordnet, hätte man die große Menge an Text etwas auflockern und die einzelnen Projekte noch aussagekräftiger darstellen können. Für die Halbgebildeten unter den Lesern wäre ein Glossar hilfreich, in dem häufig verwendete Fachbegriffe wie beispielsweise Subsistenz, Dichotomie oder Gentrifizierung erklärt werden.
Ein umfangreiches Standardwerk über urbanes Gärtnern. Das Thema wird aus verschiedenen Perspektiven in seiner ganzen Bandbreite dargestellt. Angesichts der Dimensionen, die das Ganze anzunehmen scheint, ist das Buch Pflichtlektüre für alle, die sich mit Stadtplanung im weitesten Sinne befassen. Lesenswert ist es auch für Gartenaktivisten und für jene, die an Alternativen zur Konsumgesellschaft interessiert sind.
Urban Gardening
Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt
Christa Müller (Herausgeberin)
oekom 2011
Broschiert
351 Seiten
EUR 19,95
Format 23,6 x 14,5 cm
ISBN-10: 3865812449
ISBN-13: 978-3865812445
In gekürzter Form erschien dieser Buchtipp in der Ausgabe 2012 des Gartenkulturführers. Die Herausgeberin, Dr. Christa Müller, ist geschäftsführende Gesellschafterin der Stiftungsgemeinschaft anstiftung & ertomis, welche Voraussetzungen für nachhaltige Lebensstile erforscht und fördert.